Cantzen (*1955) ist hauptsächlich als Rundfunkjournalist bekannt geworden. Aus seinem DLF-Radiofeature „Lange Nacht der Deserteure (unbedingt anhören: https://www.deutschlandfunkkultur.de/lange-nacht-der-deserteure-dlf-kultur-31d23737-100.html) entstand diese umfassende Darstellung der Desertion von den Römern bis heute – spannend geschrieben und doch wissenschaftlich fundiert. Die Römer z.B. hatten zur Zeit der Republik die Wehrpflicht – wer aber tatsächlich gezogen wurde, wurde ausgelost! Der pseudoreligiöse Fahneneid („Sacramentum“) ist ebenfalls eine römische Erfindung, die im 4. Jahrhundert christianisiert wurde. Somit war Desertion Sünde (= Eidbruch)  geworden – sie war dennoch häufig. Es gab keine einheitliche Strafe dafür. Im Europäischen Mittelalter wurde der Kriegsdienst zunächst aus dem Vasallenverhältnis abgeleitet, kommerzialisierte sich dann aber ab dem 14. Jahrhundert. Die entstehenden Söldnerheere hatten geringe Loyalität, sondern gingen zum Meistbietenden über. Mit dem Nationalstaat verband sich das Militär erst im 19. Jahrhundert. Die Durchsetzung der allgemeinen Wehrpflicht war mit erheblicher „Ideologieproduktion“ verbunden. Natürlich gab es Desertionen. Sie wurden mit Freiheitsstrafen geahndet, eher milde. Kriegsdienstverweigerung war noch nicht als politische Strategie entdeckt, Tolstoi forderte sie gleichwohl aus ethischen Gründen, da Krieg mit Mord gleichzusetzen sei. Im 1. Weltkrieg kommt es in allen Armeen zur massenhafter Desertion. In manchen Staaten (z.B. Frankreich) wird sie mit dem Tod geahndet. Ausgerechnet das Deutsche Kaiserreich behandelt Deserteure vergleichsweise milde, erklärt sie häufig für verrückt. Es gibt 45 vollstreckte Todesurteile. Ganz anders die Terror-Militärjustiz während des 2. Weltkriegs. Die Zahlen der Hingerichteten lassen sich nicht mehr genau feststellen, es sind wohl 20-30000. Dabei nutzten wenige Militärrichter die (vorhandenen) Spielräume, um Menschen zu retten. Die wenigen Prozesse gegen diese Blutrichter wurden nach dem Krieg alsbald niedergeschlagen und die Herren setzten ihre Karriere fort. Cantzen zeichnet akribisch nach, wie solche Karrieren verliefen, man sich gegenseitig protegierte. Erst in den 90er Jahren setzte ein Umdenken ein – aber nur langsam und schrittweise! Gleichzeitig unterstützte die Bundesrepublik aber die „guten“ Deserteure, die auch nicht so hießen: Fahnenflüchtige aus der NVA und den Grenztruppen der DDR waren jederzeit willkommen, auch wenn sie Gewalt angewandt hatten. Und wie sieht es heute aus mit Deserteuren aus „völkerrechtswidrigen Angriffskriegen“, also z.B. aus dem US-Golfkrieg oder dem russischen Krieg gegen die Ukraine? Leider wird hier nur in seltensten Fällen Asyl gewährt – Crantzen schildert die skandalöse Praxis!

Kurz: das Buch ist ein Muss für alle, die sich dem zunehmenden Militarismus widersetzen wollen! Das Buch ist im zuKlamper-Verlag erschienmen und kostet 24 Euro.
Rolf Cantzen: Deserteure: Die Geschichte von Gewissen, Widerstand und Flucht
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